Auch Engel können weinen - Buchhandlung Hofmann - Gemünden

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Ted Kammerer - Auch Engel können weinen


Ein alter Mann, Patient dritter Klasse, liegt in einem St. Marienklinikum, irgendwo in diesem unserem Lande. Er hat Zeit genug, über Gott und die Welt nachzudenken. Leidensgenossen, die angeblich schon einmal tot waren, erzählen ihm die schöne Geschichte, vom langen, schwarzen Tunnel. Durch den fliegt man praktisch mit Lichtgeschwindigkeit und sieht dabei sein ganzes Leben vorbeiziehen. Am Ende des Tunnels leuchtet gleissendes Licht. Der Erzengel Gabriel spricht: "Alles aussteigen, Endstation Himmel!" Der alte Mann möchte lieber noch ein Weilchen auf Erden bleiben. Es kann auch hier seinen Lebensroman an sich vorbeiziehen lassen. Er phantasiert über Gott und die Welt. Er träumt von Krieg und Frieden, von seiner verlorenen Kindheit und von Engeln, die weinen können. Krankenschwestern sind auch Engel. Zumindest einige. Die hören sich mit himmlischer Geduld die merkwürdigen Geschichten des alten Knaben an.

ACHTUNG! Wer an die Frömmigkeit des Klerus, die Gerechtigkeit der Justiz und die Kunst der Ärzte glauben möchte - sollte dieses Buch nicht lesen.

Umschlaggestaltung und Layout: act & idea



978-3-932737-10-7

€ 19,80


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Leseprobe:


Auch Engel können weinen

Wer die vielen Gefahren des täglichen Lebens kennt, wird zugeben, dass der Job eines himmlischen Bodyguards nicht einfach ist. Rund um die Uhr muss der Schutzengel an 365 Tagen im Jahr Leib und Leben seines Schutzbefohlenen beschützen. Wehe er passt nur eine Sekunde nicht richtig auf, schon haben wir das Malheur. Wir müssen zum Doktor, wir müssen in`s Krankenhaus. Wenn unser Schutzengel im Operationssaal aufmerksam über uns wacht, wachen wir im Wachraum auf und können bald auf eigenen Beinen wieder nachhause gehen. Im ungünstigeren Fall werden wir in einer Undertaker-Limousine zum Gottesacker gefahren. Billig ist diese letzte Reise nicht. Undertaker wollen auch leben.
Ich kann sie nicht leiden, diese makaberen Schauspieler. Die zocken Dir mit ihrer unnachahmlichen Leichenbittermine den letzten Dollar ab. Bevor Du wortlos in Dein kühles Grab sinkst, haben diese sprachbegabten Gaukler Deinen Hinterbliebenen das letzte Hemd ausgezogen. Dir ziehen sie das teuerste Hemd aus ihrem Beerdigungskatalog an. Deine Sargkiste ist aus feinstem Edelholz, Du ruhst auf teueren Seidenkissen. Grab-Stein und Grabschmuck kosten ein Vermögen. Damit Du Deinen trauernden Hinterbliebenen in guter Erinnerung bleibst, läuft der Beerdigungs-Unternehmer zur Hochform auf. So hässlich kannst Du im Leben gar nicht ausgesehen haben, dass der pietätvolle Unterdaker Dich im Tod nicht hübsch „her-richten“ könnte. Eine saftige Formalinspritze in den kalten Corpus Delicti, ein Pfund  Anti-Falten-Creme alla Uschi Glas ins aschfahle Gesicht, ein geweihter Rosenkranz in Deinen gefalteten Händen, lässt Dich aussehen: „Als wenn Du schlafen  würdest.“
Mit Pietät und Menschenwürde hat dieses gnadenlose Geschäft längst nichts mehr zu tun. Die Konkurrenz ist hart. Jeder Beerdigungsunternehmer muss schauen, wo er seine Kunden findet. Der eine arrangiert sich mit dem Städtischen-Kranken-haus, der andere mit der Autobahnmeisterei, und der wieder andere muss nehmen was übrig bleibt. Dass auch er mit den Sargschreinern, Friedhofsgärtnern und Grabstein-Metzen ein Abkommen hat ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Unter 30 % Provision läuft da nix.
Wer bedenkt wie teuer sein Begräbnis wird, ärgert sich Zeitlebens über die Beerdigungs-Mafiosos.
Dem lieben Gott und mir, sind diese Leichenbitter suspekt. Um ihnen das Geschäft mit dem Sterben zu verderben hat  der Herr des Himmels und der Erde vor einiger Zeit eine völlig neue Gattung von Engeln erschaffen: Die Weiblichen!
Früher waren ja alle Engel männlich. Hey Mann,  was liegt so einem geflügeltem Macho an ein paar Toten mehr oder weniger auf Erden? Im Prinzip nix. Gar nix. Also sprach Gott der Herr „weibliche Engel müssen her.“
Seither haben wir sie, die himmlischen Karbolmäuschen. Engelsgleich schweben sie von Krankenbett zu Krankenbett und streichen Balsam auf die Wunden. Aufgeschnitten, zugenäht, blass wie der Tod liegt ihr Patient danieder, fürchtet sich vor dem unerbittlichen Mann mit der Sense und seinem Kompagnon von der Undertaker-Mafia.
Diesen Dunkelmännern haben die Krankenschwestern den Kampf angesagt. Eifrig huschen sie von Bett zu Bett. Manche sind so eifrig, dass sie auch nach Feierabend noch von  Bett zu Bett huschen. Dagegen ist nichts einzuwenden denn, der Schwester ihr ausgeglichener Hormonhaushalt kommt auch dem Patienten zugute. Nichts Schlimmeres als eine unbe-mannte Karbolmaus. Die lässt ihren Frust am Patienten aus.
In einem modernen Krankenhaus sind die Schwestern schön und ausgeglichen. In unserem hochmodernen „Klinikum St. Marien-Gesundheits GmbH & Co KG“  werden sie an höheren Kriterien gemessen. Schönheit und Ausgeglichenheit  alleine reicht nicht. Nervenstark, hochbelastbar und immer freundlich müssen sie von Station A bis F sein.
Ich habe das Glück im Unglück, auf der Station E 5 zu liegen. Dort versehen dreizehn himmlische Wesen ihren Dienst. Ich nenne sie meine Engel. Ich weiß warum. Ich habe Erfahrung mit   Krankenschwestern.
Schon als ich ein Knäblein im zarten Alter von 9 Monaten war, holte der grässliche Mann mit der Sense nach mir aus. Damals schlich der Unheimliche um das Krankenhaus in Bamberg herum. Elf Kleinkinder wurden in einer einzigen Nacht an Diphtherie operiert. An zehn Kindersärgen weinten die Schutz-engel. Sie hatten den Kampf gegen den Sensenmann verloren. Mein Schutzengel hat gewonnen.
Die nachfolgenden Jahre besucht mich der Mann mit der Sense immer dann, wenn zu anderen Kindern das Christkind kommt.
Eine normale Luftröhre ist ungefähr so dick wie ein kleiner Finger, meine künstliche Luftröhre ist nicht dicker als ein Federkiel. Dementsprechend schwillt sie bei jeder Erkältung zu. Bei allen bösen Geistern, nur wer das Gefühl kennt qualvoll erwürgt zu werden, kann sich halbwegs vorstellen was man fühlt, wenn  die Luftröhre zuschwillt. Ich liege alleine in meinem Kinderbettstättchen wenn der Sensenmann mich am Hals packt. Ich möchte nach der Mama rufen, aber es kommt nur ein unartikuliertes Krächzen zustande. Lieber Gott im Himmel, ich atme nicht mehr, ich schnappe verzweifelt nach Luft. Ich  röchle wie ein Papst, der in der Engelsburg erdrosselt wird. Der unsichtbare Henker drückt meine  Luftröhre immer schlimmer zu. Die Todesangst wird panisch. Bevor ich mein junges Leben qualvoll ausröchle, eilt Gott sei Dank, der Hausarzt Dr. Vogel herbei. Ein Wettlauf mit dem Sensenmann beginnt. Dreimal ist der Doktor schneller. Erst spritzt er mir das Serum vom Schaf, dann das vom Rind, und schließlich das vom Pferd. Mehr geht nicht. „Beim nächsten Mal bin ich mit meiner ärztlichen Kunst am Ende, der Bub muss sterben,“ seufzt der Doktor. Der Bub hat keine Lust zu sterben. Er ist noch so jung, und wer weiß was ihm das pralle Leben noch geben kann?

Während der ersten zweinhalb Jahre sind Großvater und Enkel das Dream-Team. Der „Großdada“ hat sich im I. Weltkrieg einen formidablen Lungenschuss eingefangen. Deswegen ist er mit seinen 56 Jahren schwach und ausgezehrt wie ein Greis. Zum tanzen und musizieren fühlt er sich trotzdem nicht zu schwach. Sobald sein Enkel sagt: „Großdada Musik“ spielt er auf der Ziehharmonika. Wenn der Bub sagt: „Großdada tanzen“, tanzt der alte  kranke Mann in der Kinderstube herum wie das Rumpelstilzchen. Am lustigsten aber ist, wenn der Bub sagt: „Großdada  Schesn`fahren.“ Dann legt sich der gute Mann in den Kinderwagen. Vorne hängen seine langen Beine heraus, hinten schiebt der kleine Knirps.
In den kalten Kriegswintern, wenn Keuchhusten und  Rachen-Bräune den Buben quälen, betet der Großdada innbrünstig zu allen Heiligen im Himmel.

Im Mai 1945 ist der II. Weltkrieg aus und verloren. Das Ende ist die größte Katastrophe, seit Erschaffung der Welt: 55 Millionen Menschen haben ihr Leben verloren. 6 Millionen Juden, darunter 1 Million Kinder, sind grausam ermordet worden.  
Im „Tausendjährigen Reich“ liegen 1,63 Millionen Häuser in Schutt und Asche, 7,5 Millionen Obdachlose suchen ein Dach über dem Kopf. Den Witwen und Waisen, den Flüchtlingen und Obdachlosen geht es nicht so gut wie mir. Sie haben  in den Kriegswirren ihren Schutzengel verloren. Meiner steht mir treu zur Seite.

Der Großdada hat sich seinen miserablen Lungenschuß eingefangen, weil er für Kaiser,  Gott und Vaterland gekämpft hat. Seine Söhne Michael und Josef kämpfen im II. Weltkrieg für Führer, Volk und Vaterland. Wo die zwei Burschen stecken, und ob sie überhaupt noch leben, weiß niemand. Sie sind als „vermisst“ gemeldet. Das heißt, entweder in Gefangen-schaft, oder Tod. Wo mein Papa ist, weiß man. Im Himmel. Das Flugticket hat ihm der Führer geschenkt.
Die Stimmung ist gedrückt. Der Großdada ahnt sein nahes Ende. Er hört den unsichtbaren Mann mit der Sense schon um`s Haus schleichen.
Der 19. Juni 1945 ist ein heißer Sommertag. Die Heuernte muss eingefahren werden. Oma, Mama, Onkel Siggi, Onkel Adolf und ich sind auf der großen Heuwiese, oben am Wehrwolf. Den besten Job habe ich mir ausgesucht. Liege zufrieden im Heu und denke:  Der Krieg ist zu Ende. Kein Tiefflieger macht mehr Jagd auf Nazis. In den Tagen  vorher haben die übermütigen USAF-Piloten gerne Hasenjagd auf Nazis gemacht. Die Nazis, das sind so Leute, wie wir. Ihre einzigen Waffen sind Heugabel-und Rechen. Wenn ich schon rechnen könnte, wüsste ich, dass mein großer Onkel Siggi, nur zwölf und mein Onkel Adolf, nur sieben Jahre älter sind als ich. Weil ich kein Wunderkind bin, geht mit Mathematik nix in meinem Kindskopf. Ich freue mich nur, dass Ruhe am Himmel eingekehrt ist. War schlimm genug bisher. Auf dem Dorf gibt’s keine Flugabwehr. Wehrfähige Männer gibt‘s auch schon lange keine mehr. Die sind alle gefallen, für Führer, Volk und Vaterland. Wer nicht gefallen ist, sitzt in Kriegsgefangenschaft. Was das genau ist, weiß ich nicht so recht. Ich hab` keine Ahnung von Politik und Geographie. Höre halt nur, dass der Krieg  verloren ist.
Bis vor kurzem sind die Tiefflieger über uns hinweggebraust. Heiliger Strohsack. Oft genug hat die Oma im Straßengraben Deckung gesucht. Oft genug hat die Mama meinen Kinder-wagen im nächstbesten Gebüsch versteckt. Die Heuwiese am Wehrwolf war der reinste Präsentierteller. Wenn der Krieg nicht vorbei wäre, hätten es die Tiefflieger heute verdammt leicht, uns böse Nazis abzuknallen.
Im Moment knallt nur der Onkel Siggi mit der Peitsche. Er führt das Kuhgespann. Der kleine  Onkel Adolf muss genau auf die Befehle seines großen Bruders hören: „Brems` anziehen, Hemmschuh unterlegen.“  Der Nichtökonom wird sich darunter wenig vorstellen können. Der Landmann weiß was gemeint ist. Er beherrscht die Technik einen Heuwagen fachmännisch zu laden. Sabberalot, ein sauber geladener Heuwagen ist ganz schön hoch. Damit die wertvolle Fracht unterwegs nicht verloren geht, wird der „Heubaum“  obenauf gelegt und an beiden Enden fest „zusammen-geraddelt.“   Die Oma wird wie eine Landgräfin auf die Fuhre gesetzt, und ab geht die Post. Auf dem flachen Lande, ist das kein Problem. Bei uns im  Steigerwald gibt’s Berge und Täler. Unser höchster Berges-Gipfel ragt zwar nur ein paar Hundert Meter in den Himmel, aber auch er will bezwungen sein. Besonders, wenn`s mit einem Heufuhrwerk bergab geht. Da haben Gespannführer und Bremser allerhand zu tun. Onkel Siggi und Onkel Adolf  be-herrschen ihr Handwerk. Die Mama auch. Schiebt meinen Kinderwagen und mich unfallfrei nachhause.
Im Normalfall kommt uns der Großdada schon am Hoftor ent-gegen. Heute nicht. Der 19. Juni 1945 ist kein Tag wie jeder andere. Er ist schlichtweg ein Scheißtag. Der beschissenste, den ich je erlebt habe. Die Oma nimmt mich am Patsch-Händchen und schaut nach dem Großdada. Der liegt im  großen Ehebett, und erzählt die tollste Geschichte aller Zeiten: Dem Hutzeldada seine Scheune ist ihm auf den Kopf gefallen!“
„Um Gottes Willen Jackl, ach Gott, ach Gott mei` Jackela, dem Hutzeldada seine Scheune steht doch noch.“
„Ja dann hat er sie halt  wieder aufgebaut.“
„Heilige Maria Mutter Gottes, der Herr Doktor muss kom-men“, seufzt die Oma. Der Herr Doktor kommt nicht, weil es ihn nicht gibt in unserem Kuhdorf. Bei uns gibt es momentan nur den Herrn Pfarrer und die Krankenschwester. Das ist gut für uns Katholiken. Die „Lutherischen“ sind schlechter dran. Die haben lediglich einen Pfarrer. Der wiederum ist besser dran, wie unserer, denn er darf sein Eheweib begatten. Unserer darf allenfalls seiner Köchin Marie die Röcke hochheben. Selbstverständlich streng vertraulich. Fällt nämlich unters Beichtgeheimnis.
Weil kein Doktor da ist, rennt die Mama zum katholischen Pfarrhaus. Der hochwürdige Herr Pfarrer Johann Wild ist einigermaßen ungehalten. Hat soeben seinen Schweinsbraten mit Klöß` und Sauerkraut zu sich genommen. Möchte sein wohlverdientes Mittagsschläfchen halten. Hilft nix. Der Herr Hochwürden muss zum „Sterbehaus“ kommen. Mitten im Dorf steht das Rathaus, nebendran das „Schwesternheim.“ In dem machen die „Töchter vom Orden des allerheiligsten Erlösers“ Ora et Labora. Manches Mal machen sie auch etwas Anderes, aber das gehört jetzt nicht hierher. Die Krankenschwester heißt Sr.Maria Magdalena. Sie verwaltet Sanitätskasten, Jodflaschen, Verbandsmull, Heft-Pflaster und Kopfwehtabletten. Meinem Großdada helfen keine Kopfwehtabletten. Seit ihm den Hutzel-dada seine Scheune auf den Kopf hinauf gefallen ist, redet er wirres Zeug. Die Sr. Maria Magdalena erkennt mit Kenner-Blick, was los ist: „Schlaganfall.“
Der hochwürdige Herr Pfarrer weiß, was er zu tun hat: Sakra-ment der Beichte, Absolution, Kommunion, letzte Ölung.
Der Großdada lässt alle Zeremonien geduldig über sich er-gehen. Er wird absolutiert, kommuniziert und geölt - guckt den Pfarrer  verwirrt an, und sagt: „Mein lieber Mann…äh Ver-zeihung Herr Hochwürden, was würden Sie tun, wenn Ihnen dem Hutzeldada seine Scheune auf den Kopf gefallen wäre?“
„Der Herr hat`s gegeben, der Herr hat`s genommen: In Nomini Patri, et Fili, et Spiritus Sancti, Amen,”  sagt Hochwürden, läuft zurück in`s Pfarrhaus, und bereitet die Grabrede vor. Die Sr. Maria Magdalena ist voll austrainiert. Die hockt stunden-lang neben dem Großdada seinem „Sterbebett“ und betet den schmerzhaften Rosenkranz rauf und runter. Dem Großdada geht die Litanei am Arsch vorbei. Der Großdada ist ein Weltkrieg I. Veteran. Er weiß, wie man würdig aus dem Leben scheidet. Freiwillig, oder gezwungenermaßen, wer kann es sich aussuchen?
Ich suche, und finde einen Eukalyptus Bonbon. Der Großdada nimmt ihn, guckt mich glückselig an und sagt: „Vergelt`s Gott mein braver Bub.“ Zu Oma und Kindern sagt er: „Auf Wiedersehen im Himmel.“  Er nimmt meine Hand, schaut mir in die Augen  und schläft ein.
Die Sr. Maria Magdalena sagt: „Die Augen sind gebrochen.“ Sie öffnet das Fenster, damit die Seele in den Himmel fliegen kann und zündet die schwarzen Totenkerzen an. Irgendwie wird mir das Ganze unheimlich. Alles schluchzt und betet wild durcheinander. Die „Totenschwester“ wäscht den Großdada von oben bis unten mit Essigwasser und bindet ihn das Kinn hoch. Jetzt sieht er aus, wie einer, der schlimme Zahn-Schmerzen hat. Damit er das Elend rings um sich herum nicht länger ansehen muss, drückt ihm die Totenschwester die Augen zu.
Zwei Tage und Nächte liegt der Großdada in seinem Bett „als wenn er schlafen würde.“
Weil es fürchterlich heiß ist, holt die Mama in der Schloss-Brauerei eine  große Wanne mit Eis. Die Fensterläden werden geschlossen, das Eis wird unters Bett geschoben, damit der Schlafende nicht „übergeht.“ Immer wieder stehe ich an seinem Bett. Der Großdada soll endlich  aufwachen. Er mag nicht.
Am dritten Tage „riecht“ der Großdada schon wie der arme Lazarus. Zu dem hat unser Herr und Heiland Jesus Christus gesagt: „Steh auf, nimm dein Bett und geh`.“ Der Lazarus ist aufgestanden und von dannen gegangen.
Zu meinem Großdada sagt nicht einmal der Prophet Elias etwas, obwohl er doch der Altmeister der Totenerwecker ist. Der Apollonius von Tyana hat auch schon lange vor Jesus Tote auferwecken können, aber auch er lässt sich nicht blicken.
Anstelle dieser Wundertäter erscheint der Grumbuhl. Der sieht aus, wie er heißt. Verwachsen, verschlagen, hinterlistig. Im Krieg hat er Munitionskisten für die Wehrmacht hergestellt. Seit die Ami`s einmarschiert sind, behauptet er, dass er „Halbjude“ wär.` Jetzt ist er Bürgermeister, Sägewerksbesitzer und Sargschreiner. Kommt mit seinem Zollstock daher, misst den Großdada in Länge und Breite, legt ihn in eine schwarze Kiste, und nagelt sie zu. Jeder Hammerschlag trifft mich mitten in`s Herz hinein.
Der hochwürdige Herr Pfarrer wartet vor der Haustür. Mit ihm seine Ministranten und alles was sich auf den Beinen halten kann. Alte Kameraden, alte Männlein und Weiblein. Die feierliche Prozession hinaus zum Friedhof ist einigermaßen beschwerlich. Fast einen Kilometer muss der Trauerzug zurücklegen. Ganz schön anstrengend für die Sargträger. Für den Totengräber nicht. Der hat schon längst ein Loch gegraben. Der hat seinen Lohn schon versoffen. Ich kenn` ihn, den multifunktionalen Hundling. „Lorzer-Schuster“ heißt er. Er ist Schuhflicker, Gemeindediener, Totengräber und Säufer. Seine Spießgesellen sind die Sargträger. Schon ihr Anblick lässt mich schaudern. Pfui Teufel schauen die Kerle grässlich aus. Von oben bis unten schwarz angezogen. Auf dem Kopf einen Zylinder wie Merlin der Zauberer, im Gesicht eine Leichenbittermine, als wenn sie  Zitronen gelutscht hätten.
Ich kann weinen, schreien und strampeln, soviel ich will, es hilft nix. Die Undertaker begraben meinen Großdada.
Nun gut, weiß was ich zu tun habe. Verraten tu` ich es nicht.

Mein Sandkasten steht im Hof. Die Oma denkt, ich sitze da und spiele mit Schäufelchen und  Förmchen. Falsch gedacht Oma. Ich habe einen besseren Plan.
Der Weg hinaus zum Friedhof ist ganz schön anstrengend für ein zweieinhalbjähriges Bübchen. Stört mich nicht. Ich nehme meine  kleine Sandschaufel und mache mich  auf den Weg.
Die Mama und die Oma suchen im ganzen Dorf nach dem Knaben. Als der Abend hereinbricht finden sie ihn am frischen Grab. Die Blumenkränze hat er sorgsam zur Seite geräumt. Weil es „in der schlechten Zeit“ keine Seidenschleifen zu kaufen gibt, hängen Papierfahnen an den Kränzen: „Letzter Gruß“ - „Ruhe sanft“ und solche Sachen stehen darauf. Mir egal. Ich kann nicht lesen. Ich will nur meinen Großdada wiederhaben. Ein ganz schönes Loch habe ich schon gegraben, bis mich  die verzweifelten Frauen finden. „Jesses Gott Bub, hör`  doch auf, schau es wird gleich Nacht, komm geh mit uns nachhause.“
Widerwillig gehorche ich. Bevor ich mich heimführen lasse gucke ich  auf den Erdhügel unter dem die bösen  Undertaker  meinen Großdada eingegraben haben, und verspreche: „Großdada, sei nicht traurig, heute schaffe ich  es nicht mehr, aber morgen hole ich dich ganz  bestimmt!“
Danach rede ich mit dem lieben Gott. Besser gesagt, mit seinem eingeborenen Sohn. Der hängt in voller Lebensgröße an einem Holzkreuz, mitten auf dem Friedhof. Warum der Sohn des  allmächtigen Gottes nicht von seinem Kreuz herabsteigt, und mir hilft, begreife ich nicht. Deshalb schreie ich dem  Gekreuzigten ins Gesicht: „Und du willst der liebe Gott sein, der alles kann hä? Nix kannst du. Gar nix. Nicht einmal meinen Großdada kannst du ausgraben.“

„So darf man mit dem lieben Gott nicht reden,“ sagt die Oma, „der liebe Gott hat  unsere Sünden auf sich genommen, er heilt  all` unsere Wunden.“
„Ist er ein Wunderdoktor?“
„Ja, so etwas Ähnliches.“
„Aber meinen Großdada kann er nicht ausgraben!“
„Ja du Lausbub, wo nimmst denn du deine Weisheiten her hä?“
„Die hat mich der Großdada aus der Heiligen Schrift vor-gelesen. Am besten hat mich gefallen, wie die Judenkönige sich in dem Alten Testament drin` abgemurkst haben.“
„Um Gottes Willen Bub`, das Alte Dingsda geht uns nix an.  Für uns Christen, ist nur das Neue Testament wichtig.“
„Ja Oma, aber unser Herr Jesus stammt doch aus dem Hause König Davids, hast du schon einmal seinen phänomenalen Baumstamm gesehen?“
„Seinen was?“
„Ja Stammbaum, oder wie das heißt.“
„Ich hab für solche Märchen keine Zeit. Ich muss arbeiten.“
„Oma, wenn ich groß bin, arbeite ich als Zauberkünstler.“
„Hä?“
„Ja so wie der Moses, dann erscheint mir der Gott „Ich-bin-da“ und sagt: Hallo Joseph Detlev, ich bin da.“
„Jesses Bub, der Moses war ein Jud`, der geht uns Christen nix an.“
„Na gut, dann werde ich ein Hirtenknabe, so wie der kleine David und erschlage den Riesen Goliath und schneide 200 Philistern die Vorhaut ab, und dann werde ich König, und wenn mich die drei Könige aus dem Morgenland besuchen, dann sage ich: Grüß Gott Kollegen, habt ihr Gold, Weihrauch und Myrrhe dabei, ich möchte mir ein Pfeifchen anzünden!“
„Du Laushammel bist jetzt sofort  ruhig, oder du geht’s ohne Licht in`s  Bett.“
„Bitte nicht Oma, lass mich noch ein bisschen die farbigen Bildchen im Großdada seinen Büchern angucken.“
Die Oma kann mir keinen Wunsch abschlagen. Der Herr im Himmel möge es ihr vergelten. Ich liege im Großdada seinem warmen Federbett, und darf den teueren Strom vergeuden. Im Sommer kann man Strom sparen. Da ist es lange hell. Im Winter wird`s  kritischer. Da zündet so mancher arme Mann lediglich seine Petroleumfunzel an. Wer es sich leisten kann, füllt seine Wärmflasche und legt sie in`s Bett. Der reiche Bürger besitzt eine Wärmflasche aus Kupfer. Der Mittelstand hat eine aus Zinkblech, der arme Mann macht sich in der Ofenröhre einen Ziegelstein heiß. Wir gehören zu den reichen Leuten. Der Großdada hat ein Vermögen hinterlassen.
Sein Bauernhof ist schön anzuschauen. Sabberalot, gleich zwei große Scheunen, Pferdestall, Viehstall, Schweinestall und  Hühnerstall. Ein Schlachthaus mit Metzgerladen, Gesinde-Haus, Backhaus, alles ist da. Bloß kein Großdada mehr. Unter der Tenne stehen seine Luxuslimousinen, Motorräder und Pferde-Droschken. Alles könnte so schön sein…

Das Leben ist kein Wunschkonzert. In „der schlechten Zeit“ schon gar nicht. Bis vor kurzem waren viele Juden im Dorf. Jetzt steht ihre Synagoge leer. Ihre Judenschul` auch. Gibt keine Juden mehr. Wer nicht rechtzeitig geflohen ist, hat den bitteren Gang nach Auschwitz antreten müssen. Mehr als  ein Dutzend Judenhäuser stehen leer. Der Großdada hat dem Metzger-und Viehhändler Leopold Oppenheimer sein Anwesen gekauft. Bei Mose, früher haben fünf jiddische Viehhändler die Geschäfte gemacht. Seit sie enteignet und deportiert sind, verdient sich der Großdada eine goldene Nase. Die Geschäfte gehen glänzend. Bis zu seiner seiner letzten Ölung. Seit der Totengräber ihn eingegraben hat, ziehen schwarze Wolken am Himmel auf. Nichts ist mehr ist, wie es einmal war. Schuld daran ist der Grumbuhl, der Verbrecher, der elende. Wenn der den Großdada nicht in eine Kiste hineingenagelt hätte – aber das soll er bitter bereuen. Ich kann es kaum erwarten, groß und stark zu werden. Sobald ich kräftig genug bin, nagle ich den Hundling mit seinen eigenen Sargnägeln ans Scheunentor. Die Sargträger ersäufe ich im Dorfsee. Wie das geht, habe ich schon gesehen. Wenn ein Bauer zu viele junge Katzen hat, steckt er sie in einen Sack und wirft sie in den See hinein. Was ich mit dem Steinmetz Adam Hofmann anstelle, muss ich mir erst noch ausdenken. Auf jeden Fall muss es etwas ganz Schlimmes sein. Er ist schuld, dass ich meinen Großdada nicht ausgraben kann. Seit er eine schwere Steinplatte aufs Grab gelegt hat, kann ich mit meiner kleinen Schaufel nix mehr ausrichten.
Die Zeit wird kommen, wo ich stark genug bin. Ich werde den Grabstein aufheben. So wie der Engel am Grabe unseres Herrn Jesus Christus werde ich es machen. Da wird die Schwester Maria Magdalena ganz schön blöd gucken, am Ostersonntag. Das Grab ist leer, mein Großdada ist auferstanden.

Bis es soweit ist, darf ich seiner Bettstatt liegen. Zwischen Wohn-und Schlafzimmer steht ein schöner grüner Kachelofen. Der macht den Abend wohlig warm. In der Nacht allerdings, blühen die „Eisblumen“ am Fenster. Macht aber auch nix, weil die Oma schläft ja neben mir. Die hält mich warm. Schade, dass die Kinder von heute keine solche Oma haben. Meine ist einfach märchenhaft. Tagsüber trägt sie ihre Zöpfe sittsam unter einem Kopftuch verborgen. Beim Zubettgehen bürstet  sie ihr Haar aus. Das ist  so lang und schön wie bei einer Frau Königin. Der Oma ihr langes Nachthemd ist schneeweiß, ihr Rosenkranz geweiht von allen 14 Heiligen Nothelfern, und zu denen beten wir gemeinsam jeden Abend.
Bevor ich mich an die Oma kuscheln darf, gehe ich schnell noch auf`s Nachttöpfchen. In Franken nennt man dieses Ding „Bodschamber.“ Der steht unter dem Bett, und wird früh- morgens auf den Misthaufen geleert. Wenn der Kikeriki Pech hat, wird er ordentlich getauft. Selber schuld der blöde Gockel. Warum muss er zu nachtschlafender Zeit herumkrähen wie ein Geisteskranker? Könnte ja seine dummen Hühner auch etwas später vögeln.
Wer in der Nacht sein großes Geschäft machen muss, ist beschissen dran. Mein lieber Mann, setz dich mal im eiskalten Winter auf ein Plumpsklo. Da wirst du des Lebens nicht mehr froh. Klopapier ist ein Fremdwort. Wer Glück hat, putzt sich den Popo  mit einer alten Zeitung ab.

Die Mama ist selten zuhause. Sie packt ihre große Hamster-tasche und fährt auf den Schwarzmarkt. Leichter gesagt, als getan. Es fängt schon mit der Hamstertasche an. Die hat sie aus Fallschirmseide gehäkelt. Donnerwetter, bei Höhe 412 hat`s kurz vor Kriegsende einen englischen Bomber voll hinein-gebrezt in die Botanik. Sabberalot, alles was Beine hat, rennt zur Absturzstelle und plündert. Die tote Crew wird ihrer Kleider beraubt. Der Herr Volksschullehrer Jäschkel ist ein Nazi wie alle Schullehrer, aber ein ganz ein Verrückter. Führt seine Schulklasse zur Höhe 412, rührt mit einem Stock im offnen Gehirn des Piloten herum und sagt: „Kinder, da schaut her, so sehen also die Hirne unserer Feinde aus!“
Vom Flugzeugwrack kann jeder ein Stück brauchen. Die Kupferschmieds-Brüder schleppen das Aluminium davon. Daraus lassen sich prima Töpfe, Schüsseln und Eimer herstellen. Die Mama ergattert einen Fallschirm. Daraus strickt sie mir einen Pullover und häkelt ihre Hamstertasche.
Benzin ist ein Fremdwort. Wenn mal ein Auto ins Dorf kommt, dann mit Holzvergaser. Sieht lustig aus, so ein Ding. Wird befeuert, wie ein Kanonenöfchen. Der Chauffeur tankt nicht Super bleifrei, sondern einen Ster Holz. Ob er nach Nürnberg, Würzburg oder Bamberg fährt, ist wurst. Schwarzmarkt ist überall. Die Mama schachert. Tauscht Bauernbrot gegen Seidenstrümpfe, Butter und Eier gegen einen Volksempfänger, und landet ihren größten Coup an Weihnachten  1945. Da stellt mir nämlich das Christkind ein schönes rotes Tretauto unter den Christbaum.


1946 werden die Lebensmittel noch immer gegen „Marken“ abgegeben. Hungrig wie die Wölfe laufen die Erwachsenen zum Kolonialwarenladen. Falls vorhanden erhalten sie täglich 200 Gramm Brot, 333 Gramm Kartoffeln, 7 Gramm  Fett, 13,5 Gramm Fleisch und 2 Gramm Käse. Das ergibt 850 Kalorien! Das Erntejahr ist katastrophal, es folgt ein schlimmer „Hunger-Winter.“  
Gott sei Dank gibt’s die „Schulspeise“ auch für Kindergarten Kids. Auf diese noble Idee sind unsere amerikanischen Befreier gekommen. Die bauen doch tatsächlich im alten Rüppels Schorsch seiner Wirtschaft eine Gulaschkanone auf. Der Weltkriegs I. Veteran Schorsch kommt aus dem Staunen nicht mehr `raus: „Anno 14/18 wenn wir so verpflegt worden wären, hätten wir den Krieg nicht verloren“ rezitiert der alte Kämpfer und zeigt auf sein steifes Bein: „Da hat mich so ein Franzosenschwein hineingeschossen,“ flucht er, und hinkt von dannen.
Die Dorfkinder hinken nicht. Die laufen schnell. Mit Schüsseln, Milchkännchen und Essensträgern, holen sie sich ihre „Schulspeise.“  Die schmeckt köstlich. Am einem Tag gibt`s Erbsensuppe, am anderen Kakao mit Weißbrot, und am nächsten Lebertran. Pfui Teufel schmeckt das Zeug grässlich. Am besten man schüttet es gleich in den Schorsch seinen Sautrog hinein.

Der dicke Gulaschkanonen-Neger lacht sich schlapp. Vor diesem schwarzen Riesen haben die Kinder zunächst eine heillose Angst: „Die Neger sind Menschenfresser“ behaupten die alten Veteranen, aber wir merken bald, dass das nicht stimmt. Im Gegenteil, der schwarze Teufel ist ein wahrer Engel. Der schenkt uns Sachen die wir noch nie gesehen, geschweige denn gekostet haben: Schokolade, Corn Flakes, Orangen, Bananen, Datteln…
Damit die Not leidenden Deutschen nicht ganz des Hungers sterben, schließen sich in Amerika die „CARE-Angels“ zusammen. Ein Care-Angel ist das Gegenteil von einem Hells-Angel. Der „Höllen-Engel“ sieht aus wie ein ungewaschener Stallknecht vom Rotbart Barbarossa. Der Care-Engel sieht so strahlend schön aus, wie Engel auszusehen haben. Solange die Welt besteht, hat es keine vergleichbare Organisation gegeben wie die „Cooperative for American Remittances to Europe (CARE).  Mit Erlaubnis der US Regierung, und Unterstützung der US Army, segnen  die Care-Engel Millionen Deutsche mit Fresspaketen.  Im Frühjahr 1946 treffen die ersten Pakete in Bremerhaven  ein. Dauert noch eine kleine Weile, bis sie ihren Weg in`s Dreifrankeneck finden. Hier wie dort, landen sie vorzugsweise bei Verwandten.  Wohl dem, der Verwandtschaft in Amerika hat. Gott sei Dank, wir haben.
Der Paketinhalt ist streng limitiert -  aber ein Vermögen wert. Unter den Köstlichkeiten befinden sich zwei Pfund „echter Bohnenkaffee“, zwei Pfund „weißer Zucker“ und ein Pfund „Hersheys Vollmilch-Schokolade.“  Das ist Luxus pur!
Die ältliche Frau Francisca Vogel, genannt „Vogels Frenz“ haust einen Kilometer entfernt vom Dorf in ihrer „Vogelruh.“ Sobald sie hört, dass meine Oma ein Care Paket erhalten hat, tippelt sie zu uns und bettelt inbrünstig um einen Fingerhut voll Kaffeebohnen.
Nachbarn betteln um Rosinen, Milchpulver oder „echten Honig.“  In Deutschland gibt`s nur „Kunsthonig“ und der schmeckt, wie er heißt.
Die Frau Baronin von Pröllnitz trinkt gerne echten Bohnen-Kaffee.  Mit ihr kann man prima Tauschgeschäfte machen. Man bringt der gnädigen Frau eine Tüte Kaffeebohnen, und kriegt dafür Brotmarken. Der Herr Baron sitzt momentan bei Wasser und Brot in Hammelburg. Dort ziehen die Ami`s den Nazis die Hammelbeine lang. Weil der Baron NSDAP-Ortsgruppenleiter war, und der Reußer-Hans Nazi-Bürgermeister, sitzen sie nun beide im Internierungslager. Im Rathaus sitzt der angebliche Halbjude Grumbuhl, im Schloß residieren die polnischen Juden. Böse Kerle sind das. Ganz bitterböse. Eigentlich sollen sie auf ihre Ausreise nach Palästina vorbereitet werden. Eigentlich können wir nix dafür, was die NS-Schergen den Juden angetan haben. Den neuen Schlossherren ist das scheißegal. Die hausen schlimmer wie die Vandalen. Zerhacken die wertvollen Möbel, schüren damit Lagerfeuer im Rittersaal, verbrennen die wertvollen Ölgemälde, scheißen ungeniert in jeden Salon und putzen sich den Arsch mit Samt-vorhängen ab. In der alten Waffenkammer standen herrliche Rüstungen, Lanzen, Schwerte und alles was das edle Ritter-Geschlecht von Pröllnitz über tausend Jahren gesammelt hatte. Dank der Vandalen liegt der Schatz  jetzt im morastigen Dorfsee.
Mein Großdada liegt auf dem Friedhof. Die Oma und ich stehen jeden Tag an seinem Grab. Ich kann es nicht über-winden, dass der Großdada nicht mehr da ist. Bin einfach un-tröstlich. Der Doktor Vogel sagt: wenn das so weitergeht mit dem Buben, bricht ihm das Herz, dann könnt ihr ihn neben seinem Großdada begraben.“ Ich mag nicht begraben werden.  Ich mag auch nicht mehr den gekreuzigten Sohn Gottes anrufen. Hab ja gesehen, dass er nix kann. Gar nix. Hängt einfach nur da, und das seit zweitausend Jahren. Mir wäre das viel zu langweilig. Der Oma darf ich meine Gedanken nicht verraten. Die tät` fuchsteufelswild werden. Sie vertraut auf ihren Herrn und Heiland Jesus Christus. Ich nicht. Ich zweifle sehr, ob er wirklich ein großer Wundertäter ist.  Angeblich kann er Legionen Dämonen aus einem Verrückten seinem Kopf heraus und in eine Schweineherde hinein treiben. Angeblich kann er Tote auferwecken. Warum weckt er nicht meinen Großdada auf hä?
Die Oma kniet vor dem Gekreuzigten nieder und bekreuzigt sich. Weil ich sie nicht verärgern will bekreuzige ich mich auch. Die Oma nimmt mich an der Hand, und wir laufen heimwärts. Daheim ist der Teufel los. Eine Horde Wahn-sinniger zerlegt gerade alles, was es zu zerlegen gibt. Nichts bleibt heil. Die Oma ist entsetzt, ich fürchte mich fürchterlich. Habe schreckliche Angst vor diesen irren Gestalten. Die schlagen mit großen Äxten auf alles ein, was ihnen im Weg steht. Fluchen fürchterlich auf die Nazis und brüllen, das wäre die Rache der polnischen Juden.
Die Oma ist sehr erzürnt und sehr kuraschiert. Die lässt sich selbst von Barbaren nicht einschüchtern: „Schämt euch Polaken-Schweine erbärmliche, komm mein Bub, wir laufen zum Bürgermeister, der wird uns helfen.“
Der Bürgermeister hilft uns sofort. Ist ja nicht mehr, als recht und billig. Schließlich ist er der Oma ihr leibhaftiger Cousin. Zumindest war er es, solange die Hakenkreuzzeichen auf Sieg gestanden haben. Seit der Wind aus einer anderen Richtung weht, behauptet der Grumbuhl ein „Halbjude“ zu sein. Schön für ihn, schlecht mich und die Oma.
Mein Großdada hat nie geleugnet, dass er in der SA war. Im Gegenteil, er wollte sogar in seiner braunen Uniform zu Grabe getragen werden. Lediglich zwei weitere Dorfgenossen haben vor der US-Entnazifizierungs-Kommission zugegeben, dass sie „Braunhemden“ waren. Komischerweise sind auf einem historischen Erinnerungsfoto  der SA-Ortsgruppe über sechzig  „Braunhemden“ zu sehen. Die Oma sieht rot: „Grumbuhl, du Idiot, du Schwein, du Vaterlandsverräter, du hast mir die Polacken auf den Hals gehetzt.“
Der Grumbuhl fühlt sich in seiner Ehre verletzt. Insbesondere deshalb, weil der Herr Revierförster Schwarzmann auch schon in der Bürgermeisterkanzlei herumschipft: „Er kann nicht länger mit ansehen, was die polnischen Juden im Schloß anstellen.“ Der „halbjüdische“ Bürgermeister Grumbuhl regelt die Sache sofort. Er erklärt Kraft seines Amtes, Oma und Revierförster für verhaftet. Lässt die beiden im Rathaus-Saal einsperren. Ich stehe da, wie bestellt, und nicht abgeholt. Laufe heim zur Mama – und die sofort zum Rathaus. Schimpft fürchterlich, aber hilft alles nix. Oma und Förster bleiben gefangen. Am anderen Tag fährt der Herr Landrat aus Bamberg mit seiner schweren Limousine vor. Wow, welch ein Mann. Weißer Seidenanzug, weißer Al-Capone Hut, schwarze Sonnenbrille. Dr. Thomas Dehler heißt der noble Herr. Während des Krieges hatte er es einigermaßen schwer. Im Hetzblatt „Der Stürmer“ wurde er als „echter Judengenosse“ beschimpft. Seine Frau ist die Jüdin Irma Frank. Das gefällt unseren Befreiern, den Amerikanern, unheimlich gut. Die ernennen den Freimaurer Dehler zum Landrat. Weil der Großdada ein Judenanwesen gekauft hat, führt sich der Herr Landrat auf wie der berüchtigte Scharfrichter Molitor. Bei Mose, die Juden sind nicht von Zivilisten enteignet worden. Enteignet hat sie der NS-Staat. Die Bayerische Bauernsiedlung hat sich am Verkauf jüdischer Anwesen gesund gestoßen.  Unsere katholische Kirchengemeinde hat Judenanwesen auf-gekauft, zwei Dutzend Bürger haben Judenanwesen gekauft, warum nicht auch mein Großdada?
Er ist nicht mehr da. Seine großen Buben sitzen als  Kriegs-gefangene in Amerika, die Oma ist das wehrlose Opfer der Herren Grummbuhl & Dr. Dehler. Die wollen nun auch noch meine Mama einsperren. Welch eine Schande, für den Bundes-Justizminister. Was er hier treibt, der Herr Dr. Dehler ist Selbstjustiz. Freiheitsberaubung erster Güte. Die Gefangene Oma zusammen mit dem Herrn Schwarzmann in einem Raum, ohne Tisch und Bett, ohne Toilette, ohne Wasser, ohne Essen.
Noch ist er erst Landrat der Herr Dr. Dehler. Seine Karriere als Generalstaatsanwalt, Bundesjustizminister und Bundesvorsitzender der FDP soll nicht  nicht lange auf sich warten lassen…




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